Rad versus LKW
Ende Juni 2015. Anfang Dezember 2015. Anfang April 2016. Oder auch Anfang November 2012, nur um zu zeigen, dass dies kein neues Phänomen ist. Das Muster ist immer dasselbe: Rechtsabbiegender LKW überrollt RadfahrerIn. Stets hatte der Radfahrer oder die Radfahrerin grün und damit Vorrang. Das letzte Unfallopfer hat, soweit aus der Presse bekannt, immerhin überlebt. Anlässlich dieses Unfalls, des dritten innerhalb nur eines Dreivierteljahres im Stadtgebiet, fragt sich die hiesige Lokalzeitung nachvollziehbarerweise, ob solche Unfälle vermeidbar seien. Der Artikel beantwortet diese Frage nicht (zum Glück – im Nachhinein ist man immer schlauer, was gerne zu vereinfachten Antworten führt), doch eine Aussage darin verleitet mich dann doch, die Unfallkreuzung näher zu beleuchten:
Im Grunde ist diese Kreuzung eine Standardsituation.
In der Tat ist diese Kreuzung, wenngleich sie recht beengt ist, und die Radverkehrsführung daran ein Allerweltsfall, es gibt sie im Grunde dutzende Male im Stadtgebiet. Noch dazu ereignete sich der Unfall „aus dem Stand heraus“: LKW und Radlerin standen an der roten Ampel und fuhren gleichzeitig los. Wenn die Kreuzung also schon eine Standardsituation ist, dann ist dieses Szenario sogar noch der Standard innerhalb des Standards. Mehr Vorhersehbarkeit, mehr Planungsmöglichkeit geht nicht. Wie also sieht es an dieser Stelle aus?
Es gibt auch eine leicht nach vorne vorgezogene Haltelinie für die Radler, sodass sie für den Autoverkehr bei Rotlicht besser sichtbar sind.
Das stimmt, auch wenn die Haltelinie nur minimal vorgezogen ist. Doch dieser kleine Versatz genügt gegenüber einem herkömmlichen PKW bereits, um im Blickfeld der/des Fahrerin/Fahrers zu sein, da sich zu dem Versatz ja auch noch die Länge einer Motorhaube gesellt. Genau diese fehlt LKWs jedoch, womit dieser kleine Versatz völlig wirkungslos bleibt. Er reicht nicht aus, um eine/n wartende/n Radfahrer/in aus dem toten Winkel zu befördern. In den Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA) finden sich Beispiele, in denen die Haltelinie für RadfahrerInnen um bis zu drei Meter (!) vorgezogen ist. Das würde sicherlich eine größere Sichtbarkeit auch aus LKWs heraus bedeuten. Stattdessen reden wir über Spiegelsysteme an LKW, die leider noch nicht marktreif seien.

Der Radweg wird kurz vor der Kreuzung hinter eine Baumreihe verschwenkt und führt erst direkt im Haltebereich wieder an die Fahrbahn heran – suboptimal.
Der Radweg verläuft am Mittleren Graben kurz vor der Ampel direkt neben der Straße, sodass die Radler grundsätzlich im Sichtfeld der Autofahrer sind.
Auch das stimmt, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Tatsächlich ist im Straßenverlauf vor der Kreuzung eine Radspur auf der Fahrbahn vorhanden. Diese wird jedoch erst auf das Hochbord geleitet, um kurz vor der Kreuzung dann für ein kurzes Stück hinter eine Baumreihe verschwenkt zu werden. Erst direkt zum Haltebereich wird die Radspur zurück auf die Fahrbahn geleitet. Man muss sich fragen, ob dieses Hin und Her nicht rigoroser begradigt werden sollte und muss. „Grundsätzlich im Sichtfeld“ ist eben doch eher „immer wieder mal im Sichtfeld“. Wenn man sich dazu entscheidet, den Radverkehr an Kreuzungen auf die Fahrbahn zu leiten – und genau das ist der Regelfall moderner Kreuzungsgestaltungen –, dann muss dies rechtzeitig geschehen, damit die ungehinderte Sichtbeziehung möglichst früh gegeben ist.
Separate Radler-Ampeln, die Radlern ein paar Sekunden Vorsprung geben, bevor der Autoverkehr losrollt, wären eine Lösung.
Zwar eine, wie angemerkt wird, die nur hilft, solange alle Beteiligten von der roten Ampel losfahren, aber immerhin. Letztlich reden wir – glücklicherweise – um eine möglichst weitere Verringerung von schon sehr kleinen Fallzahlen. Wenn es dann mit einer derart simplen Möglichkeit getan ist, warum nicht? Doch leider schaltet die Radampel an dieser Kreuzung – wie an vielen Kreuzungen in Augsburg – gleichzeitig (respektive sogar später, wenn man gelb mitzählt) mit der Allgemeinampel. RadfahrerInnen wird also kein Vorsprung gewährt, durch den sie möglicherweise aus einem toten Winkel heraus fahren könnten. Dass diese wenigen Sekunden – wir reden bei einer kleinen Kreuzung wie dieser von wahrscheinlich zwei (2!) Sekunden – nicht gewährt werden, ist sehr sehr traurig.
Damit kommen wir in den Bereich der – sicher gut gemeinten – Ratschläge, wie sich RadfahrerInnen denn verhalten sollten.
Als Radler solle man versuchen, mit dem Lkw-Fahrer Blickkontakt aufzunehmen, wenn man parallel an der Ampel steht. „Denn nur wenn ich als Radler den Lkw-Fahrer sehe, besteht auch eine Chance, dass er mich sehen kann.“
Das ist zwar sicher richtig, aber was wäre die Konsequenz daraus? Sollten RadfahrerInnen stets am Fahrbahnrand anhalten, wenn sie sich nicht sicher sind, ob ein potentiell gefährlich werdender Verkehrsteilnehmer sie auch wirklich gesehen hat? Wie soll man sich je sicher sein? Es soll ja auch diese Tageszeiten geben, zu denen die Sonne nicht scheint. Auch bei Regen sind die KfZ-LenkerInnen oft schlecht zu erkennen. Dass jeder (naja, sagen wir: die meisten) RadfahrerInnen versuchen, Blickkontakt mit anderen Verkehrsteilnehmern aufzunehmen, die ihnen in die Quere kommen könnten, versteht sich von selbst. Warum man dieses Verhalten immer nur explizit von RadfahrerInnen (und FußgängerInnen, der Vollständigkeit halber) verlangt, ist die Frage. Müssen Autofahrer etwa nicht sicher gehen, ob der abbiegende LKW-Fahrer sie wirklich gesehen hat? Wieviele Unfälle zwischen PKW untereinander hätten sich wohl so vermeiden lassen?
Janos Korda vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub in Augsburg rät dazu, als Radler im Zweifelsfall lieber zurückzustecken, auch wenn man Vorfahrt gegenüber einem Lkw habe.
Dem ist schwer zu widersprechen. Meiner Tochter (4) sage ich im Prinzip dasselbe. Ständig. „Im Zweifel“ zurückzustecken, nicht auf seinem Recht zu beharren, ist so grundlegend, so selbstverständlich, dass es genau dadurch zu einem zutiefst überflüssigen (nett formuliert) Ratschlag wird, wenn man ihn nicht gerade lernenden Kindern erteilt. Rhetorisch schwingt darin der aus dem Umkehrschluss gewonnene Vorwurf mit, man würde auf seinem Recht beharren und in vollem Bewusstsein der Gefahr wider besseren Wissens eine Wahl treffen. Meist ist es wahrscheinlich nicht so gemeint, aber das entkräftet nicht die Wirkung. Der Ratschlag entspringt, so vermute ich, dem Versuch, Geschehenem eine Lösung zuzuordnen. Wir können mit Dingen, die passiert sind, aber nicht passieren sollten, schlecht umgehen. Unser Denken verlangt nach einer Erklärung (oder auch einer Schuldzuweisung). Gelingt uns das nicht, weichen wir darauf aus, das Geschehene ungeschehen zu machen. „Ach hätten wir doch …“. Hätten wir einen anderen Weg genommen. Wär ich doch stehen geblieben. Hätt’ ich nicht noch was vergessen und wär’ ich deswegen nicht nochmal zurück gefahren.
Das ist zwar nachvollziehbar, führt aber zu einem allzu bequemen Ausweg. Es kann nicht sein was nicht sein darf, also hätte das Opfer doch … Nein, hätte es nicht. Hat es nicht. Dieser Ausweg ist zu billig, er lenkt davon ab, dass der Ball eindeutig im Feld der Gefährder liegt. Tonnenschwere Gefährte, die per Design mehrere Quadratmeter um sich herum nicht einsehen können, sind die Gefährder, welche das Gefahrenpotential, das von ihnen ausgeht, zu minimieren haben. Ebenso haben Stadtplaner Verkehrswege so zu gestalten, um zu einer Risikominimierung beizutragen. Die Grundlage zu Verkehrssicherheit muss von Gefährderseite aus gelegt werden, nicht durch das Verhalten der Gefährdeten. Letzteres gehört selbstverständlich dazu, ist aber auch genau dies: selbstverständlich. Es kann und darf nicht von der Verantwortung der Gefährder ablenken. Niemals.