Vier lose Gedanken zur Fahrradstadt
Am Montag machte das KLAK Radlkino im Rahmen der Radlwoche in Augsburg halt und vor der Filmvorführung äußerten sich fünf Experten (oder eher: 4 Experten und ich) zum Stand der Dinge in Sachen Fahrradstadt, die ihr 2020-Anhängsel mittlerweile offiziell abgelegt hat. „Wo ist die Luft raus? Wir flicken das und pumpen auf“ ließ das Feld offen, wodurch sich fünf Menschen mit größtenteils gleichartiger Meinung ohne große Wiederholungen zu vier Stichpunkten äußern konnten. Hat Spaß gemacht, aber weil mir das geschriebene Wort eben doch näher liegt, will ich im Folgenden meine Punkte nochmals darlegen.
Die Rahmenbedingungen
Rahmenbedingungen gibt es viele, längst nicht auf alle hat die Stadt direkten Einfluss. Jüngste Entwicklungen wie das Radgesetz von Berlin zeigen jedoch, dass sich Rahmenbedingungen, die man entweder für unverrückbar oder für nicht existent gehalten hat, sehr wohl (neu) definieren kann. Ich möchte aber an dieser Stelle einen anderen Punkt hervorheben: die Voraussetzungen, die man vor Ort vorfindet, den Ort selbst. Augsburg ist eine sehr kompakte Stadt, sie hat in etwa so viele Einwohner wie das oft zitierte Münster, bringt diese aber auf rund der Hälfte der Fläche unter. Zieht man ums Zentrum herum einen Kreis mit 5 Kilometern Radius, erreicht man beinahe alle Stadtgrenzen. Die typischen innerstädtischen Entfernungen liegen somit in einem Bereich, in dem man unter Umständen mit dem Rad sogar schneller ans Ziel kommt als mit jedem anderen Verkehrsmittel. Selten dürfte der Zeitfaktor auf alle Fälle deutlich für das Auto sprechen (Ausnahmen bestätigen die Regel) und fällt in absoluten Zahlen wahrscheinlich zumindest wesentlich geringer aus, als man gemeinhin annehmen möchte. Auf alle Fälle liegen die Entfernungen in einem Bereich, der nur für wenige ein echtes Hindernis darstellt. Hier spielt mit hinein, dass in Augsburg kaum Steigungen zu bewältigen sind, Lech und Wertach sei Dank. Diese beiden Flüsse bieten zudem Möglichkeiten, die Stadt in Nord-Süd-Richtung weitgehend abseits vom Autoverkehr zu durchqueren. Dies klingt nach sehr vielversprechenden Faktoren, Radfahren mindestens als ernsthaftes (Nah-)Verkehrsmittel zu etablieren.
Natürlich machen gerade die beiden Flüsse (und die Bahnstrecke) eine Querung in Ost-West-Richtung ein wenig komplizierter, und die Kompaktheit der Stadt bringt ein Platzproblem mit sich. Beides bringt zwar der Ort Augsburg mit sich, beides ist jedoch nicht unumstößlich. Gerade letzteres müsste sich eigentlich von selbst in Wohlgefallen auflösen: Dass in einer engen Stadt es stets der Weg für das weniger raumgreifende Verkehrsmittel sein soll, der keinen Platz mehr hat – dieses Kind mag vor langer Zeit in den Brunnen gefallen sein. Mehr noch: es war jahrzehntelang (mehrheitlich) gesellschaftlich gewollt, das Auto zu priorisieren. Ist es, allen Umfragen zum Trotz, die eine überwältigende Mehrheit für eine Abkehr von der autogerechten Stadt sehen wollen, vielleicht auch immer noch. Nichtsdestotrotz muss (nicht nur) Augsburg feststellen, dass die Menge an motorisiertem Individualverkehr die Grenzen der Belastbarkeit schon lange überstrapaziert – Autofahrende selbst würden als erste unterschreiben, noch bevor man „Stickoxidgrenzwert“ rufen kann. Der einzige Ausweg ist eine Reduzierung des automobilen Verkehrsaufkommens. Weniger MIV sollte dann aber auch mehr Platz für die Alternativen ermöglichen. Wenn die Stadtpolitik sich traut, diese Platzumverteilung anzustoßen (statt wie die Henne auf das Ei zu warten), kann die Kompaktheit der Stadt als Vorteil den vermeintlichen Platzmangel überwiegen.
Die Aktivierung
Der Radanteil in Augsburg ist, wenn man den Zahlen glaubt, mit ~17% im Vergleich mit anderen Städten nicht schlecht, wenngleich ich meine, dass die positiven Voraussetzungen (kompakt, flach) eigentlich ein größeres Aktivierungspotenzial hergeben müssten. Dazu kommt, dass Augsburg mit dem Beschluss zur Fahrradstadt 2020 seinerzeit eher zu den Pionieren zählte und nicht in kurzfristigen Aktionismus verfiel, sondern sehr geordnet vorging. Man darf also durchaus davon ausgehen, dass der Begriff der Fahrradstadt geläufig ist, der Boden für konkrete Maßnahmen also sozusagen gut vorbereitet ist. Doch genau dieser Eindruck stellt sich ganz und gar nicht ein. Vielmehr hat es den Anschein, dass bei jeder Maßnahme die Diskussion bei Adam und Eva beginnt. Meines Erachtens hat es die Stadt bislang nicht geschafft, dem Begriff Fahrradstadt eine tatsächliche Bedeutung zu verleihen.
Augsburg macht sich fit für die Zukunft. Ein besonderer Fokus ist hierbei auf das Thema Mobilität gelegt: die Städte von morgen zeichnen sich durch ein intelligent vernetztes, umweltfreundliches und multimodulares Mobilitätsangebot aus. Dazu gehört insbesondere ein umfassendes Angebot für Fahrradfahrer.
Die Entfernungen innerhalb Augsburgs als auch in und aus dem näheren Umland sind ideal mit dem umweltfreundlichsten aller Verkehrsmittel zu bewältigen: dem Fahrrad. Augsburg hat sich zum Ziel gesetzt, das Angebot für Radfahrer so zu verbessern, dass bis 2020 jeder vierte Verkehrsteilnehmer mit dem Rad unterwegs ist.
Ob Infrastruktur, Service, Information und Kommunikation – in allen Bereichen wird ausgebaut, optimiert und vorangetrieben. Vieles wurde bereits umgesetzt und Augsburg nimmt Fahrt auf, auf dem Weg zur fahrradfreundlichen Stadt.
Das ist alles, was Augsburg zur „Vision“ der Fahrradstadt zu sagen hat. Das meiste davon kostet eine erkleckliche Summe ins Phrasenschwein. Dass man 25% Radanteil erreichen will ist als Aussage aber so wenig visionär wie einst Frau Merkels Ansage, man wolle bis 2020 1 Million Elektroautos auf den Straßen haben. Warum 25%? Warum nicht 18, 19 oder 32,7? Was bedeuten 25%, was ändert sich dadurch, wie setzt sich Verkehr dann zusammen, wie sieht die Stadt dann aus, wie genau passiert diese Änderung, muss ich dafür etwas tun oder kommt das einfach so, was genau habe ich davon, habe ich davon vielleicht sogar etwas, wenn ich selbst gar kein Rad fahre?
Zugegeben: Das sind auch alles keine leichten Fragen. Doch Teil des geordneten Vorgehens war doch gerade der Entwurf eines Konzepts. Wo ist dieses Konzept? Warum steht das nicht auf der Webseite statt des hübschen Worthülsenblindtextes? Warum, nur als veranschaulichendes Beispiel, stolpert man in der Stadt nicht über große Ankündigungstafeln, auf denen – ähnlich wie am Bahnhof großflächig der Endausbau dargestellt ist – beschrieben wird, dass man sich gerade an einer Stelle befindet, an der zukünftig die „AUX-1“ verläuft, eine von x Radhauptachsen? Zwar lautet auch ein Vorwurf, dass die Stadt zu wenig und zu langsam handelt, aber sie handelt durchaus. Doch die einzelnen Maßnahmen setzen sich zu keinem erkennbaren Gesamtbild zusammen. Ein Schutzstreifen hier, ein neuer Belag dort, eine Ampelanlage, ein Fahrradstraßenschild andernorts und wieder woanders vielleicht eine neue rote Furt über eine Kreuzung. All das scheint völlig willkürlich verstreut, scheint keinem Muster zu folgen, baut nicht aufeinander auf.
Es folgt ganz gewiss einem Plan, aber den kennt keiner. Und solange jede Maßnahme isoliert bleibt, wird auch immer streng isoliert gestritten. Da bleibt ein Schutzstreifen dann der Parkplatz von gestern. Wo man hier doch noch nie einen Radfahrer gesehen hat! Aber ist der Schutzstreifen vielleicht Teil einer Route, welche die Radfahrer erst bringt? Wohnt man demnächst vielleicht eher an einer von Radfahrern befahrenen Straße statt einer Auto-Durchgangsstrecke? Ist das vielleicht einen Parkplatz eine Straße weiter wert? Wäre eine weitere Verkehrsberuhigung mit mehr Straßengrün möglich? Kann ich dann etwa tagsüber wieder das Fenster aufmachen und wird die Wäsche auf dem Balkon nicht mehr rußschwarz? Der Parkplatz ist am Ende trotzdem weg, und Streit wird es immer geben. Meines Erachtens wäre die Diskussion aber schlagartig eine andere, wenn sich stets erkennen ließe, wohin die jeweils einzelne Maßnahme führt und warum das im Gesamtbild als gute Idee erachtet wird.
Die Bremser
Während sich die Stadt mit der meines Erachtens mangelhaft kommunizierten Vision unnötigerweise Steine in den Weg legt, hat sie an anderer Stelle durchaus die Killerargumente für ihre Anstrengungen hin zu einer Fahrradstadt formuliert:
Gut für Familien · gut für den Einkauf · pendlerfreundlich · alltagstauglich · bequem und sicher
Natürlich fehlt dazu die Antwort, wie all das zu erreichen sei (noch so eine schwere Frage), aber wenn das die ersten Beschreibungen wären, die einem zu Radfahren in Augsburg einfallen, dann sind wir auf alle Fälle dort angekommen. Nehmen wir davon einen Punkt heraus: gut für den Einkauf.
Wann immer es um den (Innenstadt-)Handel geht, hat man das Gefühl, als Radfahrer nicht zu existieren. Adressaten der „neue Innenstadt“-Kampagne, deren „Da bist du ja“-Tafeln teils immer noch im Weg in der Gegend herumstehen, waren ausschließlich Menschen von außerhalb der Stadt – Auto fahrende Menschen. Nicht, dass man die nicht ansprechen dürfte. Aber es werden eben exklusiv diese angesprochen. Und es folgen auch keine notwendigen zusätzlichen Schritte, etwa ein modernisiertes Parkleitsystem, das die angelockten Verkehrsmengen dann wenigstens organisieren würde. Von ergänzenden Schritten, die auf andere Zielgruppen und andere Verkehrsmittel abzielten, ganz zu schweigen. Stattdessen gibt die IHK bei jeder Ladenpleite erneut den Evergreen der fehlenden Parkplätze zum Besten und sieht den motorisierten Verkehr eh schon stark vernachlässigt, wenn fünf Schutzstreifen pro Jahr markiert werden, dem hier und da ein Parkplatz „zum Opfer“ fällt.
Tatsächlich malen wir stattdessen die Schutzstreifen in Mindestbreite um Parkplätze herum (Lindauer Straße, Zugspitzstraße, Jakoberstraße), malen Radspuren an Parkplätzen vorbei (Karlstraße), unterbrechen Radspuren für Lieferzonen (Prinzregentenstraße). Radbügel in der neuen Innenstadt entstehen zögerlich erst Jahre nach der Auto-Kampagne, die Öffnung der Fußgängerzone für den Radverkehr wird gerade so (testhalber) auf die Zeiten ausgeweitet, in denen sich Lastwagen auf Lastwagen darin türmen. Der Stadtmarkt bietet unvermindert altertümliche Radständer, die kaum 10 Rädern Platz bieten. Supermärkte scheinen keine einheitlichen Standards aufzustellen, was Anzahl und Qualität der Radständer angeht. All das schreit nicht gerade „Willkommen liebe/r Radfahrer/in, schön dass du da bist“. Weil – anscheinend – der Mythos vom ausschließlich Auto fahrenden Kunden weiterhin vorherrscht, weiterhin von Lobbyverbänden überbewertet wird.
Für Politiker wäre es an der Zeit, auf diese Einflüsterungen weniger zu hören. Es stellt keine „einseitige Förderung“ dar, wenn nach Jahrzehnten der einseitigen Auto-Fokussierung einige Prioritäten neu justiert werden. Aus finanzieller Sicht sind Radmaßnahmen, gerade wenn man von Abstellanlagen spricht, sowieso stets „Peanuts“. Aber nicht nur Politiker sind gefragt. Sollen sich bitteschön Supermarktbetreiber nicht der Illusion hingeben, wir Radfahrer würden die Parksituation nicht auch als (mit-)entscheidend ansehen – da unterscheiden wir uns nicht von Autofahrern. Wenn ein Laden keine oder nur schlechte Abstellmöglichkeiten bietet, meide ich den Laden. Vielleicht wäre es an der Zeit, den Studien mehr Glauben zu schenken, die Radfahrer schon lange als kaufkräftige Klientel ausmachen – die zwar pro Einkauf weniger ausgeben, dafür aber deutlich öfter wieder kommen und in der Summe lukrativer sein können als jene, die mit dem Auto kommen. Pauschalisieren lässt sich das sicher nicht, aber eben auch schon längst nicht mehr in der Gegenrichtung: Kunden mit Autofahrern gleichzusetzen ist ein Fehler. Wer Schritte davon weg als „einseitige Verkehrspolitik“ abtut, ist nichts weiter als ein Bremser.
Die Nutzer
Nutzen müssen wir sämtliche Angebote letzten Endes natürlich selbst. Und auch wenn zum Beispiel Gewerbegebiete wie am Unteren Talweg in Haunstetten aus jeder Asphaltpore schreien „Komm mit dem Auto, direkt nach der Arbeit, fahr nicht erst heim und dann mit dem Rad oder zu Fuß zum Einkaufen“ und damit ehemalige Stadtteilzentren (wie in diesem Fall die Hofackerstraße) auf dem Gewissen haben, müssen – oder zumindest können – wir Radfahrer auch diese Nachfrage erzeugen. Selbst wenn vieles aufs Auto ausgerichtet ist, bleibt es unsere Entscheidung. Jeder kann in seinem engsten Umfeld das Rad zu einem Verkehrsmittel des Alltags machen. Was spricht dagegen, sich vorzunehmen, bestimmte Wege von heute auf morgen nicht mehr mit einem Auto zu bewältigen, sondern zu Fuß oder mit dem Rad? Was spricht dagegen, für den Einkauf das Rad zu nehmen und sich dafür gerne auch etwas mehr Zeit einzuräumen als ihn als gehetzten Zwischenstopp auf dem (Auto)Weg von der Arbeit zu erledigen? Was spricht dagegen, das Kind mit dem Rad zur Turnstunde zu begleiten, statt es mit dem Auto hinzufahren? Gerade in der Familie mit Kindern zeigt sich für mich: Für Kinder ist das normal, was im Alltag vorgelebt wird. Wir kommen zuhause nicht umhin, den Umgang mit Smartphone und Tablet zu erlauben, weil beides in unserem Alltag fest verankert ist. Wir können die Benutzung beschränken, ja, aber es wäre undenkbar, das Kind davon fern zu halten. Wenn wir nun unsere alltäglichen Wege mit dem Auto erledigen würden – sollen wir dem Kind dann sagen, es solle doch bitte mit dem Rad fahren? Oder wäre es nicht wesentlich Erfolg versprechender, wenn wir selbst diese Normalität vorleben?
Keine Frage: Das Vorleben eines bestimmten Lebensstils alleine wird weder die Welt retten noch zur Mobilitätswende führen. Doch das heißt nicht, dass es ein sinnloses Unterfangen wäre. Frei nach dem Kalauer „Wo kämen wir hin, wenn niemand ginge, um zu sehen, wohin man käme, wenn man ginge“: wie soll eine Stadt denn eine Vision formulieren und greifbar machen, wenn man beim Lesen einer solchen Vision nicht auch unweigerlich an ein Beispiel aus dem Umfeld denkt? Niemand soll um Gottes Willen sein Umfeld missionieren und niemand muss auf Teufel komm raus aufs Rad umsteigen, wer sich damit nicht wohl fühlt. Aber jeder kann – heute, sofort, ohne äußeres Zutun – seine Gründe überdenken, weshalb man welche Wege wie bewältigt. Und ob es nicht anders ginge. Ob es nicht besser ginge. Und wer weiß, wen oder was man mit seinem eigenen Handeln anstößt?
Gute Gedanken zum Thema und ansprechend geschrieben.
Die P + R Parkplätze sollten kostenpflichtig werden, aber nicht so teuer wie Parken in der Innenstadt, und das Parkticket an den P + R Parkplätzen sollte für die Dauer des Parkens eine Fahrkarte für Bus, Straßenbahn UND swa-Rad beinhalten. Allerdings dürfte dabei die Fahrkarte für Bus, Straßenbahn und swa-Rad für Nicht-Parker (Anwohner z. B.) natürlich nicht teurer sein als für Parker.
Enorm wichtiges Thema, ja. Auch eines, wo gerade landesweit Bewegung drin ist, siehe Tarifreformen in Stuttgart und München. Und, auch wenn die Reform der swa nicht gerade beeindruckend ausgefallen ist, mit der Cityzone durchaus auch in Augsburg. Über die kann man streiten, aber es ist offensichtlich eine gewisse Experimentierfreudigkeit vorhanden. P+R ist noch nicht angegangen, aber zumindest auf dem Radar.
Oder das Kopenhagener Beispiel eingekreuzt: Gleicher Parkplatzpreis, aber das ÖPNV-Ticket ist drin. (Ein Einzelfahrschein für Zone 10 + 20 kostet inzwischen satte 2,90 €. Wenn ich die einem P&R-Nutzer zum Parken »schenken« will, muss allein der P&R schon 5,80 € kosten, um nur beide Tickets wieder rein zu holen. Was kost‘ dann P & R, wenn man noch ein bisschen was davon haben will?)