Wort und Vorurteil

Ich schlage heute mal einen weiten Bogen: Vor zwei Tagen ereignete sich in der Nähe von Augsburg ein Unfall zwischen einem Motorradfahrer und einem PKW – mit tödlichem Ausgang für den Motorradfahrer. Das hier ist die Pressemeldung dazu. Auch die lokale Tageszeitung hat darüber berichtet, darin heißt es:

Nach Angaben von Polizei [sic] war der Mann auf der B17 in Richtung Landsberg unterwegs, als vor ihm ein Autofahrer zum Überholen eines anderen Wagens auf seine Spur zog. Der Motorradfahrer konnte nicht mehr bremsen und prallte daher auf das Auto vor ihm.

Ebenfalls wurde erwähnt, dass die Schuldfrage bis dato ungeklärt sei und weitere Untersuchungen bedinge. Die Geschichte könnte nun zu Ende sein. An Detailschärfe ist der Tageszeitungsartikel deutlich unkonkreter als die Pressemitteilung, die Formulierungen sind neutral (vielleicht könnte man sich darüber streiten, dass das Nicht-mehr-Bremsen-Können nur einer von zwei Gründen war, dass es zu einem Aufprall kam, aber das fände ich verschmerzlich) und das sollte als Information für die Allgemeinheit völlig ausreichend sein. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende.

Denn am nächsten Morgen weiß die Tageszeitung mehr:

Unfall auf der B17: Motorradfahrer war wahrscheinlich zu schnell.

Und nun greifen eine ganze Menge Dinge ineinander. Die journalistische Seite: Man packt die neue Erkenntnis natürlich gleich in die Überschrift, selbst wenn es sich, wie im Text noch deutlicher formuliert („Sicher ist es noch nicht, allerdings deuten verschiedene Indizien darauf hin, dass der Motorradfahrer zu schnell gefahren war“), um keine Tatsache handelt. Desweiteren vertieft man zwar den Bericht (weshalb überhaupt – ist das für die Allgemeinheit so interessant?), jedoch fehlen gegenüber der ursprünglichen Pressemitteilung weiterhin Details – zum Beispiel dass es an der besagten Stelle kein Tempolimit gibt:

An der Unfallörtlichkeiten sind zwei Fahrstreifen für eine Richtung sowie ein Standstreifen vorhanden. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist in diesem Bereich der B17 nicht angeordnet.

Die interessante Frage, die freilich nicht gestellt oder gar beantwortet wird, ist für mich daher: Was heißt „zu schnell“, wenn es kein Tempolimit gibt? (Und wenn es schon ein „zu schnell“ gibt, wieso tun wir uns dann so schwer damit, endlich ein Tempolimit einzuführen?)

Aber erst kommt noch die kompliziertere Seite: die des Lesers. Unsere Seite. Hand auf’s Herz: wer hat sich bei „Motorradfahrer“ und „zu schnell“ dabei ertappt zu denken „Aha, das war ja klar“. Und es fügt sich zusammen, was nicht zusammen gehört: ein lückenhafter Bericht mit Vorurteilen. Wo das Bild nicht vollständig beschrieben, werden die Lücken unterbewusst geschlossen, mit von Vorurteilen gefärbten Vermutungen. Und wie sich das dann anhört, konnte ich in einer Diskussion erleben. Da hieß es dann sinngemäß: „Na, der hat doch auch Schuld, wenn er im dichten Verkehr mit 250 über die Autobahn brettert.“ Dass da ein „wahrscheinlich“ stand? Vergessen. Dass die Autofahrerin auf die linke Spur wechselte und den Motorradfahrer dabei übersah? Kein Thema mehr. Die Schuld ist klar verteilt. Die 250 km/h haben wir uns hinzuerfunden (ebenso wie den nirgends erwähnten und durch die späte Uhrzeit des Unfalls – „gegen 19.12 Uhr“, wie man in der Pressemitteilung hätte lesen können – nicht naheliegenden dichten Verkehr, ungeachtet des Widerspruchs, wie man im dichten Verkehr wohl überhaupt so schnell werden kann). Weil es in das gedankliche Bild passt, weil es das Vorurteil bestätigt. Wir alle zimmern uns die Geschichten so hin, dass sie Sinn ergeben, dass wir sie begreifen. Aus einer simplen, neutralen Unfallmeldung ist eine vorurteilsbefeuernde Meldung geworden. Als ob es notwendig schiene, ein Fehlverhalten eines PKW-Lenkers durch die Vermutung weiteren Fehlverhaltens des anderen Unfallbeteiligten erklärbar zu machen. Selbstverständlich ist die Schuld in vielen Fällen nicht einseitig zu verteilen, doch umso mehr sollte man Vermutungen scheuen. Natürlich: was wir, die Leser, aus einem Bericht machen, ist zu einem Großteil unser Zutun.  Aber die Rhetorik kann die Richtung maßgeblich beeinflussen. Wenn Journalisten das nicht wissen, wer sonst.

Aber nein, die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende. Denn so eine Tageszeitung will ja rund um die Uhr befüllt werden, und so hing man an dem jüngsten Unfall gleich noch die gestiegenen Unfallzahlen des ersten Quartals auf:

Tödliches Risiko auf zwei Rädern

Und in diesem Artikel tummelt sich nun wirklich alles, was man an victim blaming so auffahren kann und gipfelt schließlich in:

„Die Pkw-Fahrer müssen sich erst wieder an die Motorräder gewöhnen“, sagt Manfred Gottschalk vom Polizeipräsidium Schwaben Nord in Augsburg. „Gerade die hohe Geschwindigkeit und ihre Silhouetten können dafür sorgen, dass Autofahrer die Entfernungen falsch einschätzen.“ Wie kann also der Motorradfahrer das Risiko senken?
[…]
Vorausschauend fahren: Das heißt: Auch mal auf die Vorfahrt verzichten. „Der Motorradfahrer ist der, der am wenigsten Schutz hat. Da heißt es: „Lieber einmal zu viel vom Gas als einmal zu wenig“, empfiehlt Gottschalk, mahnt auch bei Vorfahrt zur Vorsicht

Der Autofahrer macht also etwas falsch und der Motorradfahrer soll etwas tun, um dieses Risiko zu senken? Das ist genau jene Umkehr von Ursache und Wirkung sowie die Verlagerung von Verantwortung, die – und da führt der Bogen letztendlich zurück zum Thema Radfahren – in so vielen Berichten und Artikeln zu Radfahrern anzutreffen ist. Und wer hier noch nicht die Parallelen zu ganz anderen Themen schlagen kann, etwa Vergewaltigungsopfern, denen man rät, lieber keinen Minirock zu tragen, der hat den Knall noch nicht gehört.

Natürlich ist es nicht verkehrt, auch ein Risiko, das man nicht selbst verursacht, zu minimieren, indem man versucht, Fehlverhalten von anderen zu antizipieren. Denn tatsächlich geht es ja nicht vorrangig um die Schuldfrage, sondern darum, Unfälle zu vermeiden. Doch weshalb werden immer die Schwachen dazu angehalten, die Fehler der Starken durch eigenes noch defensiveres Verhalten auszubügeln? Das Recht des Stärkeren mag faktisch in der Realität auftreten, die Aufgabe einer Solidargemeinschaft jedoch ist es, dieses „Recht“ mit allen Mitteln abzumildern.

Und so sehr es im Eigeninteresse liegen mag, davon auszugehen, dass der 2-Tonner SUV einen beim Abbiegen nicht sieht, umso mehr ist es notwendig, den Fahrer des 2-Tonners daran zu erinnern, dass ihm die Verantwortung und Pflicht obliegt, nichts über den Haufen zu fahren. Die Gefahr kann doch nicht der sein, der „am wenigsten Schutz hat“. Aber findet sich im Artikel eine Liste an Tipps für Autofahrer? Nein, der „übersieht“, „schätzt die Silhouette falsch ein“, „muss sich erst gewöhnen“.

Schutz-Rhetorik für den Gefährder.

Polizei hat keine Erklärung für gestiegene Unfallzahlen.

Nein?