„Mal auf die eigene Vorfahrt verzichten“

Ich bin die Mutter von Paul. Mein Kind war am 4. September 2017 mit seinem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. An der Kreuzung Schützenkuhle/Husumer Straße wurde er von einem LKW überrollt. Paul hat alles richtig gemacht, er benutzt den Radweg und die grüne Ampel. Ihm wird von dem rechtsabbiegenden (zehn Tonnen schweren) Lastwagen die Vorfahrt genommen. – (Quelle)

Vielleicht (wahrscheinlich?) liegt es daran, dass ich Berichte zu Unfällen mit Radfahrern aufmerksamer (oder überhaupt) lese als solche über PKW-Unfälle. Auf jeden Fall habe ich den Eindruck – und bin damit nicht alleine – dass es offenbar sehr schwer fällt, Radunfälle wiederzugeben, ohne ein Fehlverhalten des Radfahrers/der Radfahrerin zu erwähnen oder zumindest anzudeuten. Und wann immer Radunfälle kommentiert werden, kommt beinahe unvermeidlich ein „Argument“ zur Sprache: „Als Radfahrer muss man im Zweifel eben auch mal auf die Vorfahrt verzichten“.

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Wort und Vorurteil

Ich schlage heute mal einen weiten Bogen: Vor zwei Tagen ereignete sich in der Nähe von Augsburg ein Unfall zwischen einem Motorradfahrer und einem PKW – mit tödlichem Ausgang für den Motorradfahrer. Das hier ist die Pressemeldung dazu. Auch die lokale Tageszeitung hat darüber berichtet, darin heißt es:

Nach Angaben von Polizei [sic] war der Mann auf der B17 in Richtung Landsberg unterwegs, als vor ihm ein Autofahrer zum Überholen eines anderen Wagens auf seine Spur zog. Der Motorradfahrer konnte nicht mehr bremsen und prallte daher auf das Auto vor ihm.

Ebenfalls wurde erwähnt, dass die Schuldfrage bis dato ungeklärt sei und weitere Untersuchungen bedinge. Die Geschichte könnte nun zu Ende sein. An Detailschärfe ist der Tageszeitungsartikel deutlich unkonkreter als die Pressemitteilung, die Formulierungen sind neutral (vielleicht könnte man sich darüber streiten, dass das Nicht-mehr-Bremsen-Können nur einer von zwei Gründen war, dass es zu einem Aufprall kam, aber das fände ich verschmerzlich) und das sollte als Information für die Allgemeinheit völlig ausreichend sein. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende.

Denn am nächsten Morgen weiß die Tageszeitung mehr:

Unfall auf der B17: Motorradfahrer war wahrscheinlich zu schnell.

Und nun greifen eine ganze Menge Dinge ineinander. Die journalistische Seite: Man packt die neue Erkenntnis natürlich gleich in die Überschrift, selbst wenn es sich, wie im Text noch deutlicher formuliert („Sicher ist es noch nicht, allerdings deuten verschiedene Indizien darauf hin, dass der Motorradfahrer zu schnell gefahren war“), um keine Tatsache handelt. Desweiteren vertieft man zwar den Bericht (weshalb überhaupt – ist das für die Allgemeinheit so interessant?), jedoch fehlen gegenüber der ursprünglichen Pressemitteilung weiterhin Details – zum Beispiel dass es an der besagten Stelle kein Tempolimit gibt:

An der Unfallörtlichkeiten sind zwei Fahrstreifen für eine Richtung sowie ein Standstreifen vorhanden. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist in diesem Bereich der B17 nicht angeordnet.

Die interessante Frage, die freilich nicht gestellt oder gar beantwortet wird, ist für mich daher: Was heißt „zu schnell“, wenn es kein Tempolimit gibt? (Und wenn es schon ein „zu schnell“ gibt, wieso tun wir uns dann so schwer damit, endlich ein Tempolimit einzuführen?)

Aber erst kommt noch die kompliziertere Seite: die des Lesers. Unsere Seite. Hand auf’s Herz: wer hat sich bei „Motorradfahrer“ und „zu schnell“ dabei ertappt zu denken „Aha, das war ja klar“. Und es fügt sich zusammen, was nicht zusammen gehört: ein lückenhafter Bericht mit Vorurteilen. Wo das Bild nicht vollständig beschrieben, werden die Lücken unterbewusst geschlossen, mit von Vorurteilen gefärbten Vermutungen. Und wie sich das dann anhört, konnte ich in einer Diskussion erleben. Da hieß es dann sinngemäß: „Na, der hat doch auch Schuld, wenn er im dichten Verkehr mit 250 über die Autobahn brettert.“ Dass da ein „wahrscheinlich“ stand? Vergessen. Dass die Autofahrerin auf die linke Spur wechselte und den Motorradfahrer dabei übersah? Kein Thema mehr. Die Schuld ist klar verteilt. Die 250 km/h haben wir uns hinzuerfunden (ebenso wie den nirgends erwähnten und durch die späte Uhrzeit des Unfalls – „gegen 19.12 Uhr“, wie man in der Pressemitteilung hätte lesen können – nicht naheliegenden dichten Verkehr, ungeachtet des Widerspruchs, wie man im dichten Verkehr wohl überhaupt so schnell werden kann). Weil es in das gedankliche Bild passt, weil es das Vorurteil bestätigt. Wir alle zimmern uns die Geschichten so hin, dass sie Sinn ergeben, dass wir sie begreifen. Aus einer simplen, neutralen Unfallmeldung ist eine vorurteilsbefeuernde Meldung geworden. Als ob es notwendig schiene, ein Fehlverhalten eines PKW-Lenkers durch die Vermutung weiteren Fehlverhaltens des anderen Unfallbeteiligten erklärbar zu machen. Selbstverständlich ist die Schuld in vielen Fällen nicht einseitig zu verteilen, doch umso mehr sollte man Vermutungen scheuen. Natürlich: was wir, die Leser, aus einem Bericht machen, ist zu einem Großteil unser Zutun.  Aber die Rhetorik kann die Richtung maßgeblich beeinflussen. Wenn Journalisten das nicht wissen, wer sonst.

Aber nein, die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende. Denn so eine Tageszeitung will ja rund um die Uhr befüllt werden, und so hing man an dem jüngsten Unfall gleich noch die gestiegenen Unfallzahlen des ersten Quartals auf:

Tödliches Risiko auf zwei Rädern

Und in diesem Artikel tummelt sich nun wirklich alles, was man an victim blaming so auffahren kann und gipfelt schließlich in:

„Die Pkw-Fahrer müssen sich erst wieder an die Motorräder gewöhnen“, sagt Manfred Gottschalk vom Polizeipräsidium Schwaben Nord in Augsburg. „Gerade die hohe Geschwindigkeit und ihre Silhouetten können dafür sorgen, dass Autofahrer die Entfernungen falsch einschätzen.“ Wie kann also der Motorradfahrer das Risiko senken?
[…]
Vorausschauend fahren: Das heißt: Auch mal auf die Vorfahrt verzichten. „Der Motorradfahrer ist der, der am wenigsten Schutz hat. Da heißt es: „Lieber einmal zu viel vom Gas als einmal zu wenig“, empfiehlt Gottschalk, mahnt auch bei Vorfahrt zur Vorsicht

Der Autofahrer macht also etwas falsch und der Motorradfahrer soll etwas tun, um dieses Risiko zu senken? Das ist genau jene Umkehr von Ursache und Wirkung sowie die Verlagerung von Verantwortung, die – und da führt der Bogen letztendlich zurück zum Thema Radfahren – in so vielen Berichten und Artikeln zu Radfahrern anzutreffen ist. Und wer hier noch nicht die Parallelen zu ganz anderen Themen schlagen kann, etwa Vergewaltigungsopfern, denen man rät, lieber keinen Minirock zu tragen, der hat den Knall noch nicht gehört.

Natürlich ist es nicht verkehrt, auch ein Risiko, das man nicht selbst verursacht, zu minimieren, indem man versucht, Fehlverhalten von anderen zu antizipieren. Denn tatsächlich geht es ja nicht vorrangig um die Schuldfrage, sondern darum, Unfälle zu vermeiden. Doch weshalb werden immer die Schwachen dazu angehalten, die Fehler der Starken durch eigenes noch defensiveres Verhalten auszubügeln? Das Recht des Stärkeren mag faktisch in der Realität auftreten, die Aufgabe einer Solidargemeinschaft jedoch ist es, dieses „Recht“ mit allen Mitteln abzumildern.

Und so sehr es im Eigeninteresse liegen mag, davon auszugehen, dass der 2-Tonner SUV einen beim Abbiegen nicht sieht, umso mehr ist es notwendig, den Fahrer des 2-Tonners daran zu erinnern, dass ihm die Verantwortung und Pflicht obliegt, nichts über den Haufen zu fahren. Die Gefahr kann doch nicht der sein, der „am wenigsten Schutz hat“. Aber findet sich im Artikel eine Liste an Tipps für Autofahrer? Nein, der „übersieht“, „schätzt die Silhouette falsch ein“, „muss sich erst gewöhnen“.

Schutz-Rhetorik für den Gefährder.

Polizei hat keine Erklärung für gestiegene Unfallzahlen.

Nein?

Unfallstatistiken und das ewige Victim Blaming

Leider war auch festzustellen, dass 75% aller verletzten Radfahrer keinen Helm trugen und auch die 7 getöteten Radfahrer ohne Helm unterwegs waren.

So steht es in der Pressemitteilung des PP Schwaben Nord zur Unfallstatistik 2014 – ohne dass extern nachzuvollziehen wäre, ob oder wieviele Verletzungen und Todesfälle ein Helm hätte verhindern können. Und auch Polizeipräsident Werner Strößner weiß in der entsprechenden Pressemitteilung des PP Schwaben Süd/West ob des Umstands, „dass 8 von 12 getöteten Fahrradfahrern ohne Helm unterwegs waren“ besorgt:

Ich appelliere an Radfahrer und Fußgänger im Interesse der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens ihren Beitrag zur sicheren Teilnahme am Straßenverkehr zu leisten. Hierzu gehören […] beim Radfahrer das konsequente Tragen eines Fahrradhelms.

Mit Verlaub, aber… nein, nein, nein. Ein Helm trägt NICHT zur Verkehrssicherheit bei, genausowenig wie dies ein Airbag im PKW tut. Ein Helm (oder ein Airbag) verhindert keinen Unfall. Im besten Fall hilft ein Helm, die _Folgen_ eines Verkehrsunfalls zu mildern. Das ist zwar zweifellos hilfreich, aber eben nicht dasselbe. Und die ewige Erwähnung des Helmes (oder das Fehlen des selbigen) verdreht Ursache und Wirkung und ist schlichtes victim blaming. Ein Beitrag zur sicheren Teilnahme am Verkehr kann nicht zuvorderst – und es wird nun einmal immer zuvorderst und nicht selten alleinigst erwähnt – darin bestehen, mich einzupanzern, um im Falle eines Unfalls die Folgen zu mildern. Wenn ich (und alle anderen) zu sicherem Verkehr beitrage, dann, damit es erst gar keinen Unfall gibt! So wird ein Schuh draus. Und nur so.

Das soll nicht heißen, dass man die Diskussion um Möglichkeiten zur Abmilderung von Verletzungen nicht führen soll/muss/kann. Aber es ist eine eigene Diskussion (“Warum hatte der Unfall diese und jene Folgen” versus “Warum ist der Unfall passiert”), und sie sollte mit anständigen Zahlen und Fakten geführt werden, statt sie stets mit unterschwelligen Anschuldigungen in Unfallberichten und -statistiken einsickern zu lassen.

Aber wo eine Quelle ist, ist ja auch immer noch ein Zweitverwerter. Sprich, wo eine Pressemitteilung, da eine Zeitungsmeldung. Und da Journalismus sich offensichtlich darin erschöpft, eine Pressemitteilung mit dem Thesaurus in der Hand in ein paar eigene Sätze einzuwickeln statt sie inhaltlich zu bewerten, kommt dabei heraus, was herauskommen muss:

Die schwächsten Verkehrsteilnehmer tauchen vermehrt in der Polizeistatistik auf. Dabei könnten viele schwere Folgen vermieden werden.

So schreibt es die Augsburger Allgemeine in der Artikeleinleitung zu den Zahlen vom PP Schwaben Süd/West. Victim Blaming par excellence schon im zweiten Satz, denn freilich folgt die Aufklärung im Artikel auf dem Fuße:

dass sich schwere Unfälle von Radfahrern häufen – und oft ein Helm als Schutz fehlt.

Der Helm als Schutz vor … was? Dem Unfall? Ok, nein, die Folgen sind wohl gemeint, aber warum es dann auch nicht so schreiben? Nur geben ja selbst das die veröffentlichten Zahlen eben nicht her. Wie gesagt, man kann ja gerne eine Diskussion um Möglichkeiten zur Milderung von Unfallfolgen führen, aber bitte sehr getrennt von der Frage, warum es überhaupt zum Unfall kommt und bitte sehr nur vor dem Hintergrund belastbarer Fakten. All das ist hier nicht gegeben und wird fröhlich von unzähligen Zeitungen so falsch und irreführend in die Welt getragen. Na vielen Dank.

Disclaimer: Dies ist meine persönliche, nicht abschließende Meinung. Ich habe selbst oder im Bekanntenkreis glücklicherweise noch keinen tragischen Unfall erlebt, auch keinen, der mit einem Helm anders ausgegangen wäre. Ich selbst fahre mit Helm.